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© Bernd Kehren 1999-2016

 

Pfingsten & Angst

Und Pfingsten war die Angst weg?

“Pfingsten sprengt doch verschlossene Türen auf, reißt ängstliche Jünger von ihren Hockern und treibt sie hinaus in die Öffentlichkeit.” So lese ich es in einer Arbeitshilfe zu Pfingsten 2007, so ähnlich höre ich es im WDR-Fernsehen: Ein Priester erklärt darin, was Pfingsten ist, weil viele Menschen es nicht mehr wissen.

Nur:

Dass die Jüngerinnen und Jünger zu Pfingsten ängstlich in ihren Zimmern gehockt hätten, davon steht in der ganzen Bibel nichts.

Richtig ist: Zu Ostern hatten die Jüngerinnen und Jünger Angst vor dem, was kommt und Angst vor dem, was sie an unglaublichen Neuigkeiten gehört haben. In den Ostergeschichten schließen sie sich ein. In den Ostergeschichten kommt Jesus mit den Worten “Friede sei mit euch”. In der Thomasgeschichte im Johannesevangelium ist von den verschlossenen Türen die Rede.

Richtig ist aber auch: Diese Begegnung war ausgesprochen trostreich. So heißt es bei Lukas in der Himmelfahrtserzählung:

“Sie aber beteten ihn an und kehrten zurück nach Jerusalem mit großer Freude und waren allezeit im Tempel und priesen Gott.”

Da hört man nichts mehr davon, die Jüngerinnen und Jünger hätten sich eingeschlossen: Im Gegenteil, sie gehen öffentlich in den Tempel, sie wissen, dass Jesus Christus auferstanden ist, sie loben Gott und warten auf den versprochenen Heiligen Geist.

Bis zur Kindergottesdiensthelfer-Tagung in Duisburg vor einigen Jahren dachte ich auch noch, dass sich die Jünger bis Pfingsten erschrocken und verängstigt in ihren Räumen eingeschlossen hätten.

Es war die Jüdin Chana Safrai, die an diesem Pfingsttag davon erzählte, was Juden am ShWU’OTh-Fest tun, dem großen Fest nach Pessach. Pessach ist das Fest der Erinnerung an den Auszug aus Ägypten. Shawouth erinnert an die Verkündung der Gebote an Mose am Sinai. Und so lesen fromme Juden zu Shawouth den ganzen Tag in der Tora, in den fünf Büchern Mose. Das darf man nicht als fromme Pflicht verstehen, die man unter Mühen auf sich nimmt. Chana Safrai erzählte die Geschichte von den zwei frommen Juden, die mal “richtig einen draufmachen wollten”, und sie beschlossen - in der Tora zu lesen. Sie suchten sich eine Herberge, vertieften sich in die Schriften, sie lasen und diskutierten, sie wurden von Gottes Geist erfüllt und gerieten dabei so sehr in Extase, das es zu rauchen begann und Flammen aus dem Zimmer schlugen. “Haltet ein!”, rief der Wirt, “wollt ihr meine Herberge abbrennen?”

Flammen, war da Pfingsten nicht etwas mit Flammen? Auf dem Hintergrund dieser Anekdote, auf dem Hintergrund, dass fromme Juden zum Pfingstfest in der Bibel lesen, und dass Extase und Bibellesen keine Widersprüche sind, auf den Hintergrund der Himmelfahrtserzählung des Lukas kam Chana Safrai zu dem Schluss: Auch die Jüngerinnen und Jünger lasen als überzeugte Juden voller Erwartung auf den Heiligen Geist in der Tora. Nicht verzagt, sondern froh. Und wenn das Neue Testament vom Heiligen Geist in Form von Flammen erzählt, der sich auf die Männer und Frauen setze, die sich an diesem Tage alle in einem Raum versammelt hatten, dann wunderte das diese Jüdin aufgrund ihrer eigenen Tradition nicht.

Ich finde es immer wieder spannend, wie sich in der Begegnung mit dem Judentum überraschende Einsichten auftun. Immer wieder merke ich, dass sich in unseren Köpfen christliche Interpretationen festgesetzt haben, die im Widerspruch zu dem stehen, wie es in der Bibel steht.

So findet sich nirgends in der Bibel die Behauptung, in einem jener Länder, in denen die Gastfreundschaft sprichwörtlich ist, hätte ein böser Wirt (oder sogar zahlreiche Wirte) einer hochschwangeren Frau die Tür vor der Nase zugeschlagen. Wer die Häuser damals kennt, mit dem Eingangsbereich für Tiere und dem erhöhten Wohnbereich im hinteren Teil der Wohnung, der wundert sich nicht über eine Futterkrippe in diesen Räumen, und der wundert sich auch nicht darüber, dass das Kind in Windeln dort hinein gelegt wird, “weil es sonst keinen Platz in dieser Herberge gab”. Für mich ist das traditionelle Krippenspiel inzwischen Tradition gewordener Antijudaimus, eine Beleidigung des Volkes, in dem die Gastfreundschaft zum obersten Gebot gehörte, wie man es an Geschichten wie über Lot und seine Gäste in 1. Mose 19 nachlesen kann. Leider wird man die durch zahlreiche Krippenspiele verfestigte Auffassung in absehbarer Zeit nicht korrigieren können.

Und es findet sich eben nirgends ein Beleg dafür, dass die Jüngerinnen und Jünger vor Pfingsten verzagt gewesen seien...

Bibellesen ist spannend, und immer wieder überraschend. Wir Christen sollten uns mehr darauf besinnen...

Bernd Kehren

siehe auch: Pfingstpredigt 2001