Wenn ich mir die Diskussionen der letzten Jahre in der ev. Kirche im Rheinland anschaue, dann bleiben vier Faktoren unberücksichtigt: Zum einen die Bevölkerungsstatistik, zum anderen die Wohlstandsentwicklung, zum dritten die fehlende Personalplanung und zum vierten fehlendes wirtschaftliches Denken.
Die Wohlstandsentwicklung führte dazu, dass Kirche eine ganze Zeit lang in einem erheblichen Maße Personal einstellen konnte. Im Rheinland spricht man daher vom "dagobertinischen Zeitalter".
Die Bevölkerungsstatistik macht in Nachhinein deutlich, warum in den geburtenstarken Jahrgängen so viele Theologiestudierende eingestellt werden konnten.
Mangelndes wirtschaftliches Denken führte dazu, dass zunächst einmal niemand genau nachrechnete, welche Kosten dieses Einstellungen irgendwann einmal im Blick auf Pensionen hervorrufen würden. Ob man mit der steigenden Lebenserwartung und den damit verbundenen steigenden Kosten für die Beihilfe rechnen konnte, möchte ich hier nicht behaupten.
Allerdings hatte sich eingebürgert, auf die bösen großen internationalen Firmen zu schimpfen, die aufgrund finanzieller Notlagen und wirtschaftlicher Entwicklungen Arbeitnehmer entlassen mussten. Diesen Vorwurf wollte man sich nicht machen lassen. Man hätte sich ja auch an Josef in Ägypten orientieren können: Der legte in den guten Jahren zurück, um später nicht nur selber durch die schlechten Jahren kommen, sondern auch anderen Bedürftigen dabei helfen zu können. Die Kirche machte es genau anders herum: Sie schimpfte auf eine Wirtschaft, die auf hemmungslose Expansion und wirtschaftliches Wachstum setzte, und traf gleichzeitig wirtschaftliche Entscheidungen, die genau dieses wirtschaftliche Wachstum zur Voraussetzung hatten.
Beispiel aus meinem Heimatstadt: Jahrelang wurden die Gelder für die Baurücklage für das "Haus der Kirche" als zentralem Verwaltungsgebäude in der Innenstadt in den Gemeinden der drei Essener Kirchenkreise für die Jugendarbeit ausgegeben. Zweifellos ein guter Zweck. Als dann die Baurücklage für die Renovierung dieses Hauses gebraucht wurde, war sie nicht mehr im nötigen Umfang da. Das Haus musste verkauft werden. Seitdem wird das nötige Verwaltungsgebäude teuer gemietet.
Ebenso wurde mit der Pensionsrücklage verfahren. Man sah es als unsozial an, riesige Summen anzuhäufen, aus denen einmal die Pensionen bezahlt werden können, gab einen Teil dieses Geld für gute Zwecke in der ganzen Welt und der eigenen Kirche aus und vertraute darauf, dass die wirtschaftliche Entwicklung, der Heilige Geist oder sonst wer den Fehlbetrag (sofern man sich darüber überhaupt Rechenschaft ablegte) schon ausgleichen könnte. Dass die Kirche einmal zahlenmäßig abnehmen könnte, dass die Zinsentwicklung nicht immer steigen würde, dass man das zweckgebundene Geld einmal brauchen würde: Daran dachte man nicht.
Und weil es keine Personalplanung gab, fiel auch niemandem auf, wie viele junge Theologen die Presbyterien in einem überregional nicht koordinierten Wahlverfahren in Pfarrstellen wählten, und wie viele längst gewählte und auf Lebenszeit verbeamtete Pfarrerinnen und Pfarrer keine Pfarrstelle mehr abbekamen. Weil man sich nicht dem Vorwurf aussetzen wollte, den man der Wirtschaft in vergleichbaren Situationen machte, wurden diese Menschen auch nicht nach drei Jahren in den Ruhestand versetzt, sondern durch Beschäftigungsaufträge bis an die Pensionsgrenze gebracht. Damit trugen sie zu einem erheblichen Teil zur Entlastung der PfarrstelleninhaberInnen bei: Pro Kirchenkreis bis zu vier zusätzliche Theologinnen! Zwar gab es bei jedem dritten Stellenwechsel ein Stellenbesetzungsrecht der Landeskirche; dieses wurde aber entweder nicht wahrgenommen oder aber durch das wählende Presbyterium so lange unterlaufen, bis das Landeskirchenamt entnervt aufgab und der Wahl des Wunschkandidaten zustimmte. Auf diese Weise wurden nicht nur wesentlich mehr Pfarrerinnen und Pfarrer auf Lebenszeit verbeamtet, als es das System Landeskirche langfristig verkraftete, es geschah auch noch in einem relativ kurzen Zeitraum. Das bedeutet: Alle diese PfarrstelleninhaberInnen würden auch innerhalb eines relativ kurzen Zeitraums von wenigen Jahren mit ihrer Pensionierung wieder aus dem Dienst ausscheiden.
Mit anderen Worten: Die Kirche ging durch diese übermäßigen Verbeamtungen finanzielle Verpflichtungen ein ohne sich Rechenschaft darüber abzulegen, wann und wie sie diese finanziellen Verpflichtungen würde ausgleichen können.
Nach außen steigerte dies (neben der gesellschaftlichen Situation: Friedensbewegung, Kirchentage...) die Attraktivität des Pfarrberufes und trug zu zu einem Höchststand an Theologiestudierenden bei.
Die Lage spitzte sich unaufhaltsam zu, ohne dass man dies genügend deutlich merkte. Daher nahm die Personalabteilung der Landeskirche immer noch Interessierte auf die Liste der Theologiestudierenden auf, stellte immer noch fleißig Vikarinnen und Vikare ein, verbeamtete sie auf Probe und gab ihnen damit das Versprechen, sie auch einmal zunächst auf Widerruf und dann auf Lebenszeit zu verbeamten.
Diese Problematik ist schon explosiv genug. Wenn dann aber eine drastische Verlängerung der Lebenszeit hinzukommt, gleichzeitig die Zinsen für die (zu niedrigen) Rücklagen auf ein Niedrigniveau sinken, wird die Lage katastrophal.
Wie hat die Kirche im Rheinland reagiert? Zunächst hat sie die Kosten für die Pfarrerinnen und Pfarrer für die Gemeinden transparent gemacht: Ein nennenswerter Anteil der Pfarrerkosten wurde nicht mehr durch eine anonyme allgemeine Pfarrbesoldungspauschale gedeckt, sondern den Gemeinden direkt in Rechnung gestellt. Die Gemeinden reagierten darauf mit einer Welle von Pfarrstellenstreichungen.
Das war ein Schock für die Vikarinnen und Vikare. Die Landeskirchen reagierten unterschiedlich. Die benachbarte westfälische Landeskirche machte einen drastischen Schnitt, der zum Teil zu erheblichen Härten führte. Immerhin ermöglichte das den immer noch relativ jungen Theologinnen und Theologen, beruflich umzusteuern. Damit sank bereits die Attraktivität des Theologiestudiums beträchtlich.
Die rheinische Kirche ging einen anderen Weg, richtete auf fünf Jahre befristete Sonderdienststellen ein, mit denen Pfarrstellen weitere entlastet und besondere Projekte angestoßen werden sollten. Das entschärfte die Situation eine Zeit lang, entlastete die Gemeinden und Kirchenkreise zwar nicht finanziell, aber doch in ihrer Arbeit, ließ aber die Betroffenen immer älter werden. Nur zum Teil gelöst wurde das Problem des ungesteuerten Zugangs zum Pfarrberuf. Ein Zeit lang ging das Konzept auf; für einige Jahre konnten bis zu 85 Prozent eines Jahrgangs in Pfarrstellen oder einen weiteren Sonderdienst vermittelt werden. Dann spitzte sich die Lage wieder zu. Mangels wirtschaftlichen Denkens wurde immer noch kein fester Schnitt gezogen. Aus den immer noch scheinbar unermesslichen (und doch jetzt schon zu geringen) Rücklagen wurde durch Vorruhestandsregelungen die Quote von 85 Prozent gehalten.
Die rheinische Kirche war immer noch nicht in der Lage, die nötige wirtschaftliche Entscheidung Entscheidung zu treffen, den Betroffenen die Wahrheit zu sagen und den nötigen Schnitt zu machen.
Jetzt kamen zwei verhängnisvolle Wirkungen zusammen: Durch die für die Gemeinden finanziell transparentere Pfarrstellenfinanzierung wurden Pfarrstellen abgebaut und durch die Vorruhestandsregelungen war der Pfarrstellenmarkt zusätzlich auf mehrere Jahre leer gefegt.
Wieder wurde das Theologiestudium unattraktiver.
Jetzt kam der dritte Schritt: Zum ersten Mal wurde ein versicherungsmathematisches Gutachten in Auftrag gegeben. Nun wurde deutlich, dass einerseits die Pensionskasse durch ein mehrere hundertmillionenschweres strukturelles Defizit belastet war und dass andererseits der PfarrerInnenmangel durch die inzwischen gealterten Sonderdienstlerinnen nicht aufgefangen werden kann: Sie würden bei Eintritt des Mangels selber das Ruhestandsalter erreichen.
In der Folge wurde beschlossen, das Sonderdienstprogramm sofort zu stoppen, ohne dass die Betreffenden eine reelle Chance auf eine Pfarrstelle bekommen sollten.
Die Not war für die Landeskirche so groß, dass sie einen jahrelangen Einstellungsstopp und einen linearen Abbau der Pfarrstellen erwog. Dann fiel den zuständigen Ausschüssen auf, dass in den nächsten Jahren weniger Menschen pensioniert würden als bei einem linearen Pfarrstellenabbau nötig wäre: dies würde nur zum Aufblähen des Wartestandes führen. Seitens des theologischen Nachwuchses wurde vorgerechnet, dass von den ca 1950 Gemeindepfarrstellen (Stand: ca 2004) bei einem entsprechenden Abbau im Jahre 2030 nur noch ca 500 besetzt wären.
Mit spitzem Griffel wurde berechnet, dass es möglich sein sollte, jedes Jahr 20 Personen ins Pfarramt zu lassen, zunächst durch überplanmäßige sogenannte mbA-Stellen ("mit besonderem Auftrag"). Zugleich wurden harte Maßnahmen zur Verringerung der Personenzahl im Wartestand getroffen.
Die Attraktivität des Pfarrberufes und die Bereitschaft zum Theologiestudium dürfte damit ihren absoluten Tiefpunkt erreicht haben. Dazu beigetragen hat sicherlich auch die Verletzungsgeschichte der betroffenen Theologiestudierenden, die nicht mehr ins Vikariat kamen, ebenso wie die Verletzungsgeschichte der betroffenen VikarInnnen und SonderdienstlerInnen, die nach erfolgreichem Abschluss der theologischen Ausbildung und des Probediensts keine Pfarrstelle mehr bekommen konnten.
Was hätte die Kirche einem Unternehmen in der freien Wirtschaft angesichts der eklatanten wirtschaftlichen und personalplanerischen Maßnahmen nicht alles ins Stammbuch geschrieben! Was _hat_ sie nicht alles alles entsprechenden Firmen etwa in der Stahlkrise ins Stammbuch geschrieben. Hat sie es besser gemacht?
Aus der Not heraus hat die rheinische Kirche endlich nachgerechnet, um die nötigen wirtschaftlichen und personalplanerischen Entscheidungen treffen und sie umsetzen zu können.
Als ein davon selbst Betroffener ist es bitter zu erleben, wie diese Entscheidungen von einigen Veröffentlichungen im Pfarrerblatt und anderswo mit der alten sozialromantischen Leier infrage gestellt werden. Stattdessen solle die Kirche ihr Handeln noch einmal _theologisch_ bedenken. Der Rheinischen Kirche kann man sicherlich alles vorwerfen, nicht aber, dass sie zu wenig theologisch oder sozial gedacht habe. Das Problem ist viel mehr: Sie hat zu wenig gerechnet - sie hat nicht wirtschaftlich gedacht. Sie hat das Gleichnis vom Kornbauern zum Vorbild genommen ohne daran zu denken, dass vielleicht auch Josef in Ägypten ein theologisch und sozial verantwortetes Vorbild sein könnte. Die Kirche hat durch ihre unterfinanzierten Pensionszusagen in den guten Zeiten einen Kredit aufgenommen, den sie nun in wirtschaftlich schlechteren Zeiten nur mit äußerster Mühe und dem Abbau wichtiger und erfolgreicher Arbeitsbereiche zurück zahlen kann.
Inwieweit sich die Entwicklung dieser Fehlentscheidungen und der Versuche, sie zu korrigieren, auf andere Landeskirchen übertragen lässt, kann ich nicht beurteilen, dazu fehlt mir der Überblick. Sicherlich hat diese Entwicklung einer der großen Landeskirchen der EKD auch Folgen für die anderen Landeskirchen.
Ob die Prognosen für 2030 alle stimmen? Wer will das sagen? Fest steht aber jetzt schon, dass die Kinder, die bis jetzt nicht geboren wurden, im Jahre 2030 auch keine Kirchensteuer zahlen werden. Fest steht schon jetzt, dass ein großer Teil jener der treuesten Kirchenmitglieder im Rentenalter bis 2030 verstorben sein und ein weiterer Teil das Rentenalter erreicht haben wird. Fest steht auch, dass die Bindungen an die Kirchen lockerer geworden sind und die Zahl der Kirchenaustritte eher steigen werden, erst recht, wenn Kirche ihre Angebote unter öffentlicher Anteilnahme zurückfahren muss. Damit lassen sich reelle Szenarien für die Kirchenfinanzierung hochrechnen. Und es gibt genügend biblische Gleichnisse und Geschichten, die zu sorgfältigem Rechnen und wirtschaftlich verantwortlichem Handeln auffordern. Wer von den lauten kirchlichen Sozialromantikern macht sich endlich einmal daran, _darüber_ theologisch reflektiert nachzudenken?
Fazit: Wirtschaftliche und personalwirtschaftliche Fehlentscheidungen und die Folgen der Bevölkerungsentwicklung in Deutschland haben zumindest einige Landeskirchen in der EKD in eine tiefe Krise und das (Voll-) Theologiestudium auf einen Tiefpunkt geführt. (Zu erwähnen ist an dieser Stelle, dass auch andere Berufszweige wie Kirchenmusiker, Küster, Sozialarbeiter, Verwaltung ebenfalls bluten mussten.)
Die betreffenden Landeskirchen unternehmen größte Anstrengungen, diese Krisen halbwegs heil zu überstehen. Der Mangel an ausgebildetem theologischen Personal lässt sich inzwischen zahlenmäßig im Zeitablauf relativ genau bestimmen. Damit lässt sich auch eine relativ sichere Aussage über den kommenden Bedarf in seinem Zeitablauf machen.
Das vor uns liegende Tal wird den Pfarrberuf sicher noch etwas anstrengender machen. Dennoch ist und bleibt er einer der schönsten und freiheitlichsten Berufe, die man sich denken kann. Warum sollte nicht das Wunder gelingen, mit einer transparenten Darstellung des Bedarfs einerseits und der schönen Seiten des Berufes andererseits dazu beitragen, dass junge Menschen wieder die Berufung hören?
Ein transparenter und ehrlicher Umgang mit den Ursachen ist die Voraussetzung dafür, dass mögliche Interessenten für den Pfarrberuf der Bedarfsrechnung für die nächsten Jahre Glauben schenken.
Nachtrag: Auch dieses Tal wird bald durchschritten sein. Hoffentlich denken die Verantwortungsträger daran, dass auch nach den dann kommenden guten Jahren auch wieder schlechte Jahre kommen können. Damit sich dieses selbst verschuldete Desaster nicht wiederholt. Bernd Kehren 19.05.2014 Reaktion auf den Artikel im Deutschen Pfarrerblatt 2/2013: Die Nachwuchsfrage im Pfarrberuf aus heutiger Sicht “... und wir dachten, wir hätten ein Amt errungen ...” Von: Andreas Dreyer
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